Selten habe ich einen Ort besucht, der so viele Geschichten zu erzählen hat. Jedes Gebäude tut das auf seine Weise. Manchmal finde ich eine Zeitung, einen alten Schuh oder auch nur zerfallene Möbel, leere, verrottete Räume. All das zeugt von einer bewegten Vergangenheit. Am letzten Wochenende erzählten nicht nur die alten Räumlichkeiten von Schrecken, Wahnvorstellungen und Tod – auch die Künstler zeigten mit ihren Werken, wie sie die Dinge sehen. Dennoch strahlt diese verlassene Anstalt nichts als einen tiefen Frieden aus.
Die Geschichte der „ehemaligen Landesirrenanstalt“ beginnt wie die vieler Psychiatrien Anfang des 18. Jahrhunderts, keine der Einrichtungen verdiente den Namen Psychiatrie. Die „Irren“ brachte man zusammen mit anderen „störenden Objekten“ in hinter dicken Mauern unter. Kriminelle, Landstreicher, Obdachlose – sie alle lebten unter einem Dach und unter unvorstellbaren Bedingungen. Psychisch kranke Menschen verbannte man damals mit den übrigen Unliebsamen der Gesellschaft schlicht aus dem Bewusstsein – sie vegetierten gut verwahrt vor sich hin. Auch in der ehemaligen Landesirrenanstalt, die 1805 zunächst als Gefängnis erbaut wurde, herrschten unvorstellbare Zustände. Genau wie überall im Land brachte man die Kranken gemeinsam mit Strafgefangenen unter, die Kriminellen setzte man als Wärter der „Irren“ ein.

Erst um 1900 setzte ein Umdenken ein und man entdeckte den „Irren“ neu
Wie es damals hinter den Mauern solcher „Tollhäuser“ aussah, kann ich mir kaum vorstellen. Heute zeugt nichts mehr von diesem dunklen Kapitel in der Geschichte der Psychiatrie. Wir betreten das Gelände, als erstes entdecke ich eine Veranda wie aus einem Western. Gras flüstert im Wind und über allem liegt ein Schleier der Ruhe und des Friedens. Ich erwarte fast den alten Mann im Schaukelstuhl, der auf der Veranda seine Pfeife raucht. Von den Säulen blättert die Farbe ab und eine Treppe gibt es schon längst nicht mehr. Erst auf den zweiten Blick sehen wir die Trümmer und die verkohlten Balken, die hinter der Frontfassade liegen. Vor dem Gebäude steht ein undefinierbares Etwas. Später erzählt mir die jemand, dass es sich bei dieser Skulptur um ein Pferd handelt. „Ein dickere Ast wurde vom Sturm herunter geweht“, sagt die Frau, „da wir nicht wussten was wir damit machen sollten haben wir einfach Kabel darüber gehängt und nun steht dort ein Pferd.“ Überall, in jeder noch so kleinsten Ecke lauern Kunstwerke und warten auf ihre Entdeckung. Wir allerdings müssen erst einmal den Rest unserer Gruppe entdecken, da wir wie immer, ein paar Minuten zu spät kommen. Wir finden die Anderen in der „Hexenküche“, im Keller der Klinik für Frauen I – erst 1902 zeigte die ehemalige Landesirrenanstalt ihr Gesicht in der heutigen Form.

Um 1800 setzte ein langsames Umdenken in der Geschichte der Psychiatrie ein. ES begann die bitter nötige Trennung von psychiatrisch Kranken und Strafgefangenen. Oftmals blieb das Gefängnis als solches bestehen und die „Irren“ zogen um – so auch in der ehemaligen Anstalt. Am 1. März 1899 begannen die Bauarbeiten und im August 1902 zogen 70 Frauen und 60 Männer ein. Zuvor nahm die Bevölkerung Tollhäuser als das wahr, was sie durch die Art der Unterbringung vielleicht auch darstellten – als Bedrohung. Ende des 18. Jahrhundert entflammte unter den Gelehrten und Ärzten eine Diskussion über die menschenunwürdigen Zustände dort. John Howard (1726-1790), ein englischer Geistlicher, stieß die revolutionäre Bewegung mit seinem Bericht „über Gefängnisse und Zuchthäuser“ an. Später besuchten Literaten die Anstalten, um die Zustände dort zu schildern. Einer tat dies mit den Worten:
Zitate aus einer Vergangenheit voller Schrecken
„Ich schauderte zurück, als mir mein Freund kundmachte, dass in diesen Gefängnissen nur schuldlose Menschen schmachteten, welche meistens ohne Hoffnung die Beute des Wahnsinns wären, oft hart gefesselt werden müssten, damit sie im Anfalle der Raserei nicht ihre Wohltäter und Wärter unglücklich machten…“
Geschichte der Psychiatrie, Heinz Schott, Rainer Tölle
Ähnliches berichtet der Pädagoge und braunschweigische Hofrat Carl Friedrich Pockels aus dem „Zelleschen Zucht- und Irrenhause“:
Mit den Empfindungen der tiefsten Wehmut und einer noch nie so stark empfundenen Niedergeschlagenheit über den schaudererweckenden, mehr als fürchterlichen Anblick des höchsten Elends, der bis unter das Thier gesunkenen Menschheit komme ich diesen Augenblicks aus einem Hause zurück, worin über eineinhalb hundert Menschen (….) eingesperrt sind.
Auf unserer Wanderung stießen wir auch auf die fürchterliche Zwangsmaschine, die man so oft gebraucht hat, boshafte Gefangene und Rasende zu bändigen. Es ist ein festes hölzernes Gestell, zwischen dessen unteren Vorderbrettern die Füße so eingeklemmt werden, das sie sich ebensowenig als die Hände bewegen können, die gleichfalls zwischen harten Brettern festgehalten werden. Auf diese Weise bekommt der ganze Körper, eine etwas gekrümmte Stellung, ohne dass er den Peitschenhieben, die von hinten auf ihn fallen, im geringsten ausweichen kann.
Geschichte der Psychiatrie, Heinz Schott, Rainer Tölle

Ein humanistischer Ansatz nach einem dunklen Kapitel
Als eine der ersten Anstalten verfolgte die ehemalige Landesirrenanstalt einen humanistischen Ansatz, bekommen wir erzählt, während wir in einem niedrigen Keller stehen. Von der Decke baumelt ein Plastikskelett, das rostige Bett in der Ecke fällt in seinen Einzelteilen teils zu Boden. Schwarze, gemalte Bäume zieren die Wände. Ich komme mit einem Hobbyfotografen ins Gespräch, der mir von seiner bevorstehenden Reise nach Tschernobyl erzählt. Währenddessen zieht es Andreas in den nächsten Raum und als ich ihn anrufen möchte, stelle ich fest das mein Handy im Auto liegt – sicher verwahrt. Andreas bleibt zunächst unauffindbar, also kehre ich mit den Anderen erst einmal zur Base zurück und höre mir den Rest der spannenden Einführung an.
Als eifriger Verfechter der Beschäftigungstherapie leitete Dr. med. Carl Serger die Anstalt ab 1902. Mit Dr. Jühlke steht dem Mediziner ein Hilfsarzt zur Seite. 1910 ertrinkt Jühlke jedoch im nahegelegenen See. Dr. Lomer tritt seine Nachfolge an und soll seinem Chef später zum Verhängnis werden. Beruflich enorm erfolgreich ließ sich Serger auf eine Liaison mit der Oberpflegerin ein, Lomer drohte ihn bei der Ärztekammer zu melden. Mit diesem Damoklesschwert im Nacken macht sich der hochverdiente Arzt am 18. Oktober 1913 zu einem Spaziergang auf, von dem er nie zurückkehrt. Zwei Tage später bergen Rettungskräfte seine Leiche aus jenem kleinen See, der der Irrenanstalt ihren malerischen Flair verleiht. Eine Tragödie für den damals größten Arbeitgeber der Region, von der wir eindrücklich erzählt bekommen.
Graffitigesichter überall – lächelnd, leidend, wahnsinnig
Ich schaue mich um. Auf dem See glitzert das Wasser, Figuren aus Blech, Holz, Kabeln und anderen Dingen stehen auf eingefallenen Treppen und abgebrochenen Balkonen. Wind flüstert in den Bäumen, Graffitigesichter schauen auf uns herab. Lächelnd, leidend, wahnsinnig. Andreas hat sich wieder eingefunden. Wir machen uns auf Richtung Krankenhaus, ich entdecke das Logo der Ghostbusters und muss grinsen. Andreas erspäht einen kleinen Taucher am Fundament des zerfallenen Gebäudes. Aus Fenster und Dach wachsen Bäume, Vögel haben sich in einer runden Verzierung unter einem Giebel ihre Wohnung gebaut. Über der schweren Eisentür prangt ein quietschbunter schizophren aussehender Teufel – oder was auch immer. Wir betreten das Gebäude und erblicken ein Monster.

In jeder Ecke lauert ein kleines Meisterwerk. Zwischen verstaubten Kabeln geht ein Mädchen in gelber Öljacke mit seinem Papierboot spazieren – a la Stephen King. Über der nächsten Tür lauert ein überdimensioniertes Kamel, das uns fressen möchte. Wir entdecken Samarra aus „The Ring“ und Andreas wispert mir zu: „Sieben Tage“…wohl wissend, das ich mich vor keinem Film mehr fürchte als vor eben diesem. Aber mein Handy liegt ja im Auto – gut so. So schizophren und angsteinflößend dieses Gebäude eigentlich wirken müsste, ich empfinde nichts davon. Auch unser Guide weiß, was ich meine. Wir unterhalten uns und er erzählt mir von einer Bekannten, die eine ganze Nacht im zerfallenen Krankenhaus gearbeitet hat – allein. „Hier in diesem Zimmer hat sie gesessen, den Kopfhörer auf den Ohren, mit dem Rücken zur Tür, alles war gut.“ Zwei Räume weiter lauert Samarra. Manche Kunstwerke beeindrucken mich vom ersten Moment an, andere weniger. Während wir durch die fensterlosen Räume wandern, sprechen mich vor allem die stillen, nachdenklichen Werke an, vielleicht weil ich über Einges nachgrübele.
Ein Ort zum Nachdenken, entdecken und erinnern – aber nicht zum Trauern
Als der erste Weltkrieg über die ehemalige Landesirrenanstalt hereinbricht, geht der Krankenstand zurück. Im Jahr 1920 behandeln die Ärzte nur noch 139 Insassen. Seit ihrer Entstehung hat die Irrenanstalt viele Gesichter getragen und wir haben noch längst nicht alles entdeckt, daher widme ich diesem Blog mehrere Teile. Zunächst einmal viel Spaß mit der Galerie
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