Stahlkolosse setzen sich in Bewegung, die Rotation rollt an. Es ruckt, es rumpelt. Der Boden bebt, man fühlt es. Eine gigantische Maschinerie stampft los, um die Welt da draußen pünktlich mit News zu versorgen. Meist um Mitternacht, wie eine Stampede. Papier fliegt in endlos scheinenden Bahnen mit über 80 km/h durch tonnenschwere Stahlwalzen. Hier bin ich zu Hause. In einer Welt voller Buchstaben, Druckerschwärze und Papier. Vor allem Papier. Umso mehr habe ich mich auf diese Fototour gefreut. Es geht in eine alte Papierfabrik. Und wie immer kommen wir zu spät…..

Obwohl wir pünktlich losfahren, kommen wir am Ende doch nicht rechtzeitig an, weil uns unser Weg unter anderem auch über schmale Feldwege führt. „Guck mal“, sagt Andreas, „eine Single Track Road mit Ausweichmöglichkeit!“ Tatsächlich kommen auf dieser Umleitung zwei Fahrzeuge nich aneinander vorbei und als uns das Navi über eine schmale Brücke lotsen möchte, geht es endgültig nicht weiter. „Tja, bist du wohl zu breit“, bemerkt mein Mann und ich kommentiere das ausnahmsweise mal nicht. Wir drehen um und nach etlichen Kilometern durch kleine Dörfer und Wald finden wir das ehemalige Fabrikgelände dann doch noch. Das Abenteuer „Anfahrt“ haben wir damit schon mal überstanden. Uns erwartet ein einsamer Guide, die übrigen Teilnehmer sind schon ausgeflogen. Die geschichtliche Einführung haben wir verpasst.

Erst 1990 schloss die Fabrik ihre Tore endgültig
Sie beginnt rund 175 Jahr vor dem Papier als Hüttenwerk zur Eisen- und Silbergewinnung. 1663 ließ der Prinz von Hessen-Homburg ein „Seigerhüttenwerk“ errichten. Jedoch braucht es für einen Hochofen Wasserkraft und so erschuf der Prinz kurzerhand einen Kanal. Mitte des 18. Jahrhunderts gab der Tagebau kein Eisen mehr her und man ließ Silber einschiffen. 1883 erwies sich auch das als unwirtschaftlich und die damals 500 Einwohner des Dorfes sahen einer ungewissen Zukunft entgegen. Wie es weiter gehen sollte, wusste man noch nicht. 1799 erfand der Franzose Louis-Nicolas Robert eine mit Wasserkraft betriebene Papiermaschine – die Rettung für das kleine Dorf. Die Gebrüder Fourdrinier und der englische Konstrukteur Bryan Donkin entwickelten die Maschine weiter und von eben jener Firma – Donkin & Co – stammt die Papiermaschine in der alten Fabrik. 1837/38 zog sie ein, mit ihr konnte man Papier kostengünstiger und schneller herstellen.

Heute wirken die stählernen Kolosse wie Zeitzeugen einer längst vergangenen Ära. Am 1. Juli 1838 ging die Maschine in Betrieb, heute stehen die gewaltigen Zahnräder, Walzen und Antriebe still. Staub liegt auf den Förderbändern und dennoch wirkt der ganze Komplex auf uns, als wäre gleich Schichtbeginn. Spinnweben hängen in den Fenstern, das Glas der Druckmesser ist zersprungen. Überwältigt fangen wir an zu fotografieren, alles steht noch. In den Ecken finden wir Ölkannen, es riecht ölig und Papier hängt auf den gewaltigen Rollen. Als ich die Produktionsstraße auf ganzer Länge sehe, fällt mir die Kinnlade herunter. Gewaltig steht sie da und ich fühle mich in meine Ausbildungszeit zurückversetzt. Ich kann mir vorstellen wie dieses Ungetüm in Bewegung kommt, wie es dampft, stampft und stinkt – wie eine Stampede.

Details führen uns durch die Geschichte der Papierherstellung
Ich betrachte mir das Ganze durch die Kugel und zwei Teilnehmerinnen nutzen die Chance gleich mit. Auch sie sprechen begeistert von den Details und den gewaltigen Ausmaßen der Papiermaschine. Andreas spricht derweilen von den technischen Abläufen in der Fabrik. Total fasziniert versucht er mir das Ganze wiederholt näher zu bringen während ich detailverliebt nach dem nächsten Bild Ausschau halte, mich auf dem Boden wälze und Schublädchen fotografiere. 90 Beschäftigte arbeiteten 1839 im Werk, größtenteils Frauen. Sie gingen einer schmutzigen und lauten Beschäftigung nach, mehr als raue Bedingungen müssen hier geherrscht haben. Die Produktionsstraße ist lang, wir haben längst nicht alles gesehen. Andreas zieht es nach oben. Bereits an dieser Stelle gebe ich mich purer Faszination hin. Wie ein Blitz trifft mich die Idee der Geisterfotos. Die Umsetzung dauert ein Weilchen und wir brauchen ein paar Versuche. Andreas wirkt doch ein bisschen genervt, weil er immer wieder zwischen die riesigen Walzen klettern muss. Zwei weitere Teilnehmer im Mittelalteroutfit kommen auf uns zu, offenbar haben sie Größeres vor. „Ach das dauert nur eine gute Stunde“, sagt er und wir haben Zeit, den zweiten Stock zu erkunden.

Raue Bedingungen für einen kärglichen Lohn
Wir entdecken einen Dachboden und darauf alles Mögliche. Alte Schreibmaschinen liegen zwischen verstaubten Holzkegeln, Licht fällt durch die verstaubten Fenster und beleuchtet Papierrollen, dicke Seile, vergessene Lumpen, Zahnräder und Kartons. Sogar die Arbeitsbekleidung und Atemschutzmasken hängen hier oben. Ganz abgesehen von dem gewaltigen Schreck bekomme ich eine Ahnung von den widerlichen Bedingungen, unter denen die Belegschaft hier arbeiten musste. Zusätzlich litt der ohnehin kärgliche Lohn unter den Launen der Natur. Führte der Fluss Niedrigwasser, standen die Maschinen still. Erst ab 1849 gab es eine soziale Mindestabsicherung. Die Blaumänner hängen vor dem Fenster und sehen täuschend echt aus. Für einen kurzen Moment denke ich, dort steht jemand. Sonnenstrahlen fallen durch die Fenster und Staub tanzt auf den Uniformen. In der hintersten Ecke steht eine Stickmaschine, vielleicht trugen die Arbeiter hier beschriftete Arbeitskleidung.

Wir treffen auf die Zwei mit der Kugel und ziehen weiter. Im zweiten Stock verarbeitete man offenbar die Textillumpen, die als Rohstoff dienten. Noch heute stinkt es nach etwas Undefinierbarem und nach Öl. Gemauerte Wasserwannen mit gewaltigen Trommeln stehen in Reih und Glied. Hohe Luftfeuchtigkeit, Hitze wegen der kochenden Flüssigkeit, Dampf und Gestank und dazu der Lärm von dem Koloss ein Stockwerk tiefer – hier möchte ich nicht arbeiten müssen. Noch heute wirkt die Halle unwirklich. Große Paddel lehnen an den steinernen Bassins und scheinen auf ihren Einsatz zu warten. Ich sehe die Frauen in der kochend heißen Pampe rühren, verschwitzt und schwer atmend. Wir schießen noch ein paar Geisterfotos und Andreas hat endgültig die Nase voll von dieser Idee. Zumindest kurz. Gewaltige Schaufeln, Zahnräder und steinerne Antriebswellen lenken ihn ab. Sie liegen auf einem Gestell, warten scheinbar darauf die Stampede wieder in Gang zu setzen. An der Wendeltreppe möchte ich noch ein Kugelfoto schießen, während Andreas ein Stockwerk tiefer ein großes altes Dachschild entdeckt. Mein Kugelfoto will einfach nicht gelingen und Hilfe kommt von einem Mitfotografen. Wir unterhalten uns. Auch er kann sich die widrigen und ekelhaften Umstände in dieser Halle ausmalen.

Die Spezialisierung konnte das Ende nicht verhindern
Hier oben herrscht eine seltsame Stimmung. Offenbar gingen die Arbeiter nach Schichtende nach Hause um morgen wiederzukommen. Sie ließen ihr Werkzeug liegen, um es am nächsten Tag wieder zu benutzen. Mittlerweile liegt eine dicke Staubschicht darauf. Ab 1850 wechselte der Eigentümer der Fabrik häufig und schließlich spezialisierte sich der Betrieb auf die Herstellung von transparentem Zeichenpapier. Trotz des Erfolges folgte 1992 die endgültige Schließung. 140 Beschäftigte gingen einmal mehr in eine ungewisse Zukunft. Einmal mehr stand das Leben in diesem Dorf still. Über dem Komplex liegt heute ein Schleier der Resignation, der Wut und am Ende des Vergessens. Am Ende bekommen wir unsere Vermutung noch einmal bestätigt. „Ein Dorfbewohner sagte zu mir: Ich bin froh, das ich dort nicht arbeiten musste“, erzählt unser Guide“. Ich verlasse die Papierfabrik ebenfalls mit Wehmut.

Dieser Lost Place zeichnet sich nicht durch die Endzeitstimmung aus, die wir sonst oft erleben. Irgendwann ging das Leben im Dorf weiter – auch ohne Papierfabrik. Der stählerne Koloss hinter den Backsteinmauern symbolisiert für mich auch noch etwas Anderes. Vom ersten Wort bis zu einer gedruckten Zeitung braucht es viele Gewerke. Sie alle stehen auf einer roten Liste. Den Beruf des Schriftsetzers gibt es bereits nicht mehr, Online-Medien lösen die Papierversion zunehmend ab. Ich kann mich noch gut an das Gefühl eines Andrucks erinnern. Ich weiß wie es sich anfühlt, wenn die Stampede in Gang kommt. Vielleicht schon bald schlafen auch die Rotationen im Staub des Vergessens. Uhren und Druckmesser stehen still. Spinnweben erzählen von kilometerlangen Laufbändern, schlummernden Riesen, die Generation um Generation geprägt haben. William Bullock baute zwischen 1863 und 1865 die erste einwandfrei funktionierende Rotationsmaschine. 10.000 Bogen pro Stunde flogen durch die Walzen. Heute schafft eine Rotation 35.000 Zylinderumdrehungen in der Stunde. Jetzt droht diese Stimme zu verstummen – so wie hier ginge eine Ära zu Ende.
Wie immer fasse ich alle Bilder für Euch in einer Galerie zusammen – viel Spaß beim Stöbern!!
Leave A Reply